Album der Woche mit St. Vincent: Flow im Ohr (2024)

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Album der Woche mit St. Vincent: Flow im Ohr (1)

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Album der Woche:

Zum Glück hat Annie Clark ihr neues Album nicht von Jack Antonoff produzieren lassen. Die allmählich etwas formelhaft wirkende Studio-Arbeit des Bleachers-Musikers für Popstars wie Taylor Swift, Lorde oder Lana Del Rey ist (neben der auf maximale Spotify- und Charts-Dominanz zielenden Vielzahl von Songs) ein großer Teil der Langeweile, die sich beim Hören des neuen Swift-Albums »The Tortured Poets Department« breit macht – Schlüsselloch-Texte hin oder her.

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Antonoff war als Co-Produzent an Clarks letzten beiden Alben unter ihrem Projektnamen St. Vincent beteiligt, mit ihm zusammen schrieb sie den Song »Cruel Summer«, der zu einem der erfolgreichsten Swift-Hits der jüngsten Zeit wurde. Es ist also nicht so, dass die dreifache Grammy-Gewinnerin keine begnadete Pop-Songschreiberin wäre und es locker mit den Chart-Superstars unserer Zeit aufnehmen könnte. Wenn sie denn wollte.

Aber letztlich sind sowohl das musikalische Spektrum Antonoffs wie auch die Anforderungen an moderne Pophits wahrscheinlich viel zu eng gefasst, um der Ideenvielfalt und dem Anspruch Clarks gerecht zu werden. Selbst auf ihrem Lady-Gaga-haften Pop-Album »Masseduction« (2017) ließ sie sich Indie-Spirit und Avantgarde-Geist nicht von Antonoff austreiben. Erstmals übernahm sie jetzt, bei ihrem siebten Solo-Album, ganz allein die Produktion – eine Ermächtigungsgeste, die spürbar ist. »All Born Screaming« ist nicht nur eine Rückkehr zur alten, idiosynkratischen Form, die vor rund zehn Jahren ihre ersten Alben prägte und sie zu einer der interessantesten Musikerinnen zurzeit machten. Man wird »All Born Screaming« in der Rückschau wahrscheinlich als eines ihrer essenziellsten Alben betrachten.

Seit langem ist es üblich, St-Vincent-Alben mit David Bowies Veröffentlichungskanon zu analogisieren. Das liegt nicht nur daran, dass Annie Clark, die sich als genderfluid definiert, den androgynen Tausendsassa Bowie zum Vorbild erkoren hat. Wie einst bei Bowie weiß man auch bei jedem ihrer neuen Alben nicht, was einen erwartet. Die Stil- und Imagewechsel der 41-jährigen US-Amerikanerin sind radikal. Wie Bowie treibt sie ein so amüsantes wie kluges Anverwandlungsspiel mit den Mechanismen von Massenkultur. War »Massesuction« ihr »Let’s Dance« und das 2021 veröffentlichte »Daddy’s Home« ihr Glamrock-Statement, so betritt sie mit »All Born Screaming« nun sozusagen das Terrain von Bowies »Low«.

Zu hören ist das gleich im ersten Track, wenn Clark zu ihrem eigenen Brian Eno wird: »Hell Is Near« beginnt als elegant gleitender Trip-Hop, täuscht dann kurz eine an Led Zeppelin geschulte Folkseligkeit an, bevor es sich in elektronischem Ambient-Gelichter und alsbald nicht mehr verständlichem Engelsgesang auflöst. Die Hölle ist nah? Eher der Himmel, so lieblich beginnt das Album. Doch das ist eine Finte.

Album der Woche mit St. Vincent: Flow im Ohr (2)

Schon »Reckless« steigert sich sinister in ein kakofonisches Industrial-Rock-Gewitter, das an Nine Inch Nails denken lässt. »Broken Man« schließlich, in dessen Videoclip sich eine in einen Männeranzug gekleidete Clark selbst in Brand setzt, ist ein mit spitzen Gitarrenriffs und Schlagzeugattacken von Dave Grohl brutal donnernder Industrialblues, der Geschlechternormen in seinen Grundfesten erschüttert. Foo Fighter Grohl drischt auch in »Flea« auf die Drums, während sich Clark im Text als hungriger Floh bezeichnet, den man nicht mehr loswird, wenn er sich einmal festgesetzt hat. Auch dieser Track beginnt wie ein konventioneller Song, wuchert dann aber in einen verspielten Prog-Rock-Flow aus: Kraut- und Elektronik-Einflüsse, da sind sie, die Bowie-Zitate aus der Berlin-Phase.

Die Arbeit an »All Born Screaming« begann mit einer kniffligen Aufgabe und einem universellen Musiker-Dilemma, sagte Clark kürzlich der »New York Times«: »Wie sollte ich den Klang, den ich in meinem Kopf hatte, wiedergeben?«. Stundenlang habe sie in ihrem Studio »Post-Industrial-Dance-Musik« gemacht, bis ihr klar wurde, dass sie das, was ihr vorschwebte, niemand anderem erklären konnte. Sie musste selbst produzieren – und entdeckte dabei ihr Faible für analoge Modular-Synthesizer. Eine Epiphanie: »Man macht sich die Elektrizität zunutze«, erklärte sie in dem Interview, »sie läuft durch einzigartige Schaltkreise, und du stehst am Ruder, du bist also so etwas wie ein Gott des Blitzes.«

Mit derart alchemistischer Macht ausgestattet, gelingen ihr kostbar funkelnde Amalgame wie »Violent Times« – das zu gleichen Teilen an den James-Bond-Song »The World is Not Enough« von Garbage, aber auch an das weitaus sinistere »Sweet Bird of Truth« von The The aus den Achtzigerjahren erinnert. Auch »The Power is Out« erinnert in manchen Harmonien und seinem hymnischen Gestus zu kühl zischelndem Computerbeat an den bittersüßen Zeitkritik-Pop von Matt Johnson. »Big Time Nothing« und das verblüffende Reggae-Experiment »So Many Planets« verweisen ebenfalls in den elektronisch nach allen Seiten ausgreifenden Breitwand-Pop der Achtzigerjahre, zu späten Talking Heads und Peter Gabriels großer Solo-Zeit. Das sind, neben Überpate Bowie, offenbar die Referenzen, an denen sich St. Vincent messen lassen will. Und besteht.

Ob Clark hier vor allem innere Dämonen bezwingt oder sich in den Lyrics auch Kommentare auf den globalen Höllenzustand der Welt verbergen, in die wir alle als schreiende Neugeborene geworfen sind, das muss sich jeder selbst erarbeiten. Anders als Taylor Swift öffnet Clark mit »All Born Screaming« auch musikalisch neue Räume zum Erforschen und Interpretieren – ein wohltuendes Gegengewicht zum populären Bekenntnis- und Nähkästchenpop, bei dem die Musik nur noch wohlklingendes Vehikel ist. Auch bei ihr geht es aber um die Liebe und die Abgründe, die sich durch ihr emotionales Wechselbad offenbaren. »Es ist grausam, am Leben zu sein. Und es ist eine unfassbare Freude, am Leben zu sein. Es ist alles zugleich«, sagt Clark über ihr Album, auf dem sie diesen ewigen Zwiespalt mit Sound und Vision zum Schwingen bringt. (8.6/10)

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Author: Dan Stracke

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